Erinnerung an Hans Rosenthal

Kürzlich recherchierte ich über eine Postkarte, 1933 gesendet an die Gartenbauschule in Ahlem, die zu dieser Zeit eine Ausbildungsstätte für junge Jüdinnen und Juden war, die nach Palästina auswandern wollten. Dabei fand ich schnell heraus, dass die mir unbekannte Berliner Absenderadresse Schönhauser Allee 162 die des jüdischen Baruch Auerbach’schen Waisenhauses war. In diesem Waisenhaus lebten für einige Monate auch der später sehr erfolgreiche Showmaster Hans Rosenthal (1925-1987) und sein jüngerer Bruder Gert (1932-1942), der nach einer Erkrankung an Kinderlähmung 1934 körperlich beeinträchtigt war.

Hans Rosenthal war mir bereits als Kind aufgrund seiner sehr populären ZDF-Show Dalli-Dalli, zu der sich in den Siebzigerjahren die ganze Familie vor dem Fernseher traf, wohl vertraut. Dass ich bis heute zu Hans Rosenthal eine besondere Beziehung behalten habe, obwohl er doch eher zur Welt meiner Eltern gehörte, liegt an einem Dahlemer Kindergeburtstag 1976, zu dem auf einmal Hans Rosenthal erschien und vielleicht eine Stunde lang mit uns seine Fernseh-Show nachspielte.

Ein Kindergeburtstag in Berlin-Dahlem 1976. Auf einmal war da Hans Rosenthal, vermutlich mit den Eltern der Gastgeberin bekannt, und spielte mit uns Dalli-Dalli. Beim abschließenden Gruppenfoto stand ich zufällig vor Hans Rosenthal, dessen rechte Hand meine Schulter umfasste.
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100 Raritäten (5): „Kommerzienrats Olly“ von Else Ury

Else Ury ist berühmt geworden als Verfasserin der für junge Mädchen konzipierten Nesthäkchen-Romane, die zwischen 1913 und 1925 in zehn Bänden erschienen und bis heute – wenn auch sprachlich überarbeitet – verlegt werden. Die Erzählungen über das Leben der höheren Tochter Annemarie Braun aus Charlottenburg erreichten hohe Auflagen und machten Else Ury zu einer der erfolgreichsten Jugendbuchautorinnen der Weimarer Republik. Gut erhaltene Ausgaben ihrer Bücher aus der Zeit vor 1933 sind durchaus gesucht, aber gewiss keine großen Raritäten. Anders verhält es sich mit signierten Ausgaben, die in Antiquariaten kaum zu bekommen sind. Eine solche befindet sich in meiner Bibliothek.

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Gerade gelesen: „Wenn’s brennt“ von Stephan Reich

Dies vorweg: Ich bin ein großer Freund von „Coming-of-Age“-Romanen. Ich mag ihre Sentimentalität, ihre Wehmut und ihre etwas verklärende Sicht auf das Erwachsenwerden. Stephan Reich erzählt in seinem bereits 2016 erschienenen Roman Wenn’s brennt von den letzten großen Ferien einer langen Jungenfreundschaft: Nach Abschluss der zehnten Klasse wird der Ich-Erzähler Erik eine Lehre bei der Post beginnen, sein Freund Finn wechselt die Schule und verlässt die Kleinstadt. Den letzten Sommer aber verbringen sie noch einmal gemeinsam.

Stephan Reich: Wenn’s brennt. Roman. DVA, 2016. –
Hinweis: Bücher kauft man am besten bei seiner lokalen Buchhandlung.
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„Dank & Gruß !“ – Eine Postkarte von Arno Schmidt

Die einen verehren ihn hymnisch, die anderen halten ihn für überschätzt. Ich mag Arno Schmidt. Ich mag seine kauzige, arrogante, misanthropische Art. Ich gebe zu, es hat gedauert, bis ich mich eingelesen hatte. Ich brauchte Zeit, bis ich verstand, wie ich die Kolonnen von Satzzeichen lesen musste und mich nicht mehr von der eigenwilligen Orthographie irritieren ließ. Ich wurde Arno-Schmidt-Fan – und Sammler.

In den Achtziger und Neunziger Jahren waren die Erstausgaben Arno Schmidts sehr begehrt und sehr teuer – für mich meist unerschwinglich. An signierte Exemplare war nicht zu denken, wenn sie denn überhaupt angeboten wurden. Schließlich lebte Schmidt die längste Zeit seines Lebens zurückgezogen im niedersächsischen Bargfeld, einem Dorf mit auch heute weniger als 200 Einwohnern. Besucher empfing er kaum, öffentliche Lesungen fanden nur wenige statt. Weiterlesen

100 Raritäten (4): „Turngedichte“ von Joachim Ringelnatz

Joachim Ringelnatz hieß eigentlich Hans Bötticher. 1883 im sächsischen Wurzen als Sohn des Schriftstellers Georg Bötticher geboren zieht es ihn früh zur See. So bereist er nach Schule und Militärdienst ab 1901 bis 1903 als Schiffsjunge die Welt und lernt das raue Matrosenleben kennen – für den jungen Bötticher eine identitätsstiftende Erfahrung, der die deutschen Literatur die Figur des naiv-gutmütigen Seemanns Kuttel Daddeldu verdankt. Auf Grund seiner Sehschwäche muss Bötticher 1903 die Seefahrt aufgeben und verdingt sich in verschiedenen kaufmännischen Berufen. Doch es zieht ihn – der sich seit früher Jugend als Schriftsteller versucht – immer stärker zur künstlerischen Bohème in Berlin und München.

Joachim Ringelnatzens Turngedichte

Von Joachim Ringelnatz signiertes Exemplar der Turngedichte.

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100 Raritäten (3): „Faserland“ von Christian Kracht

Vorgestern konnte ich endlich eine Lücke in meiner Sammlung schließen. Auf dem Trödelmarkt an der Straße des 17. Juni entdeckte ich ein sehr gut erhaltenes Exemplar der gebundenen Erstausgabe von Christian Krachts Faserland, erschienen 1995 im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Und obwohl Krachts erster Roman eines der bekanntesten deutschsprachigen Bücher der Neunziger Jahre ist und mittlerweile sogar regelmäßig im Deutschunterricht gelesen wird, findet man die frühen Ausgaben kaum im Handel.

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Kühles, klares Design, auf die äußere Wirkung bedacht – die Cover-Gestaltung der Erstausgabe von Faserland weist auf das Seelenleben der Protagonisten hin.

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100 Raritäten (2): „Niederungen“ von Herta Müller

2009 erhielt Herta Müller den Nobelpreis für Literatur und wurde über Nacht weltberühmt. Die Autorin wuchs im diktatorisch regierten Rumänien Ceausescus auf und gehörte dort einer oppositionellen, deutschsprachigen Autorengruppe an. Nach Jahren der Repression verließ sie 1987 ihre Heimat und zog in den Westteil Berlins.

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Vorderer Umschlag der ersten Buchpublikation Herta Müllers, in deutscher Sprache erschienen 1982 noch in Rumänien.

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Mein neues Blog-Projekt: „100 Raritäten“ in 1000 Zeichen

Mir fehlt oft die Zeit, häufiger aber noch die Disziplin, einen angefangenen Blog-Beitrag zu Ende zu bringen. Andererseits twittere ich fleißig und für meine bisweilen etwas kauzigen Themen gar nicht einmal so erfolglos. Offensichtlich erleichtert mir die Zeichenbegrenzung bei Twitter das Schreiben – eine erleichternde Beschränkung also.

Daher also nun der Gedanke, mir für ein bestimmtes Thema – „Seltene und besondere Bücher aus meiner Sammlung“ – eine selbstgewählte Grenze zu setzen: 1000 Zeichen. In diesem Rahmen muss es mir gelingen, die Besonderheit eines Buches möglichst spannend zu vermitteln – insgesamt hundert Beiträge sollen so entstehen.

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Gerade gelesen: „Der Circle“ von Dave Eggers

Wie? Gerade gelesen? Wieso denn jetzt erst? Das Buch ist doch bald schon drei Jahre alt, die deutsche Übersetzung erschien 2014. Nun, ich gestehe: Wird ein Buch als „Must read“ gehypt, lasse ich das meist erst einmal liegen. Bald habe ich soviel Kritiken darüber gelesen und gehört, dass ich eh den Eindruck habe, das Buch schon zu kennen. Genauso ging es mir mit The Circle von Dave Eggers. Da die Diskussion über Privatheit und Überwachung aber bis heute nicht nachgelassen hat, schien es mir jetzt nun doch an der Zeit, das Buch endlich selbst zu lesen.
imageÜberraschenderweise war der Roman eine eher leichte Lektüre, erwartete ich doch einen Text mit literarischem Gewicht von Aldous Huxleys Brave New World oder George Orwells 1984, mit denen Kritiker The Circle häufig verglichen. Jedoch weit gefehlt. Die Geschichte der 24jährigen Mae Holland, die in dem sektenhaft geführten Unternehmen The Circle eine steile Karriere macht, verzichtet auf jegliche kompositorische Komplexität und semantische Vielschichtigkeit und erzählt stattdessen geradeaus und mit eher flachen Charakteren seine – durchaus interessante – Geschichte. Parallelen zu Google und Facebook, die zusammen mit GoPro und Amazon so etwas wie The Circle bilden könnten, sind unübersehbar – bis hin zu einzelnen handelnden Personen. Ein Schlüsselroman ist es aber dennoch nicht. Weiterlesen