In den vergangenen Monaten habe ich mich – nach dem Fund der Postkarte an die Gartenbauschule in Ahlem – intensiver mit den jüdischen, zumeist zionistischen Jugendbünden im Deutschland der Dreißiger Jahre befasst. Viele dieser Gruppen organisierten sich im zionistischen Dachverband Hechaluz und konzentrierten sich nach 1933 darauf, ihre Mitglieder auf die Alijah, die Auswanderung nach Palästina, vorzubereiten (Hachschara), um der wachsenden Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entkommen.
In diesem Beitrag zeige ich eine kürzlich erworbene Postkarte, die Benjamin Goldschmidt aus Palästina an Frl. Senta Grabowsky, Berlin-Halensee, Katharinenstraße 27, Germany sandte. Die Postkarte trägt das Datum vom 29. Dezember 1934. – Benjamin Goldschmidt schreibt:

Liebe Senta!
Ich schreibe Dir heute nur kurz, um Dir und der Junggruppe meine Adresse mitzuteilen:
Benjamin G.
Kwuzah Batelem
Rischon Le Zion
POB 10
Palästina
Die Fahrt bis nach Haifa und die Reise von dort hierher waren sehr, sehr schön. In Haifa hatte man es aus vielen Gründen sehr eilig, uns weiterzubefördern, sodass ich auch Cilly nicht besuchen konnte. Diese Kwuzah ist noch relativ jung, macht einen Vertrauen erweckenden Eindruck und ich denke bestimmt, dass wir uns hier einleben werden.- 1/2 Stunde Autobus von Tel-Aviv, aber etwa in 1/2 Jahr werden sie zur Ansiedlung nach dem nördl. Galil gehen, wo es über jeden Ausdruck schön sein soll. – Hoffentlich geht es nun endlich mit Deinem Zertifikat glatt. Vielleicht wäre das hier gar nicht so falsch für Dich. – Jedenfalls gib mir laufend Bescheid. – Teile bitte Kurt Ascher meine Adresse mit. In den ersten Tagen der Einordnung ist es einfach unmöglich, seinen brieflichen Verpflichtungen auch nur einigermaßen gerecht zu werden. Daher erst später ausführlicher.
Herzliche Grüße an die Deinigen. Komme bald ins Land!!
[in hebräisch: Schalom] Benjamin

Meine Recherche nach Absender und Empfängerin der Postkarte bringt leider nur wenige Ergebnisse. Das Berliner Adressbuch des Jahres 1934 weist etwa 250 Einträge für den Nachnamen Goldschmidt aus, es gibt jedoch keinen Eintrag für Benjamin Goldschmidt. Sehr wahrscheinlich wird der junge Benjamin noch bei seinen Eltern gewohnt haben, so dass ich ihn keiner Familie zuordnen kann. Aus dem Text ergeben sich einige Hinweise. Benjamin Goldschmidt war Mitglied einer Berliner jüdischen Junggruppe, die vermutlich Jugendliche auf die Alija vorbereitete. Der Schreibstil und das Handschriftenbild wirken durchaus erwachsen, der Text ist frei von Rechtschreibfehlern – es ist gut möglich, dass Benjamin Goldschmidt vielleicht Lehrer oder Ausbilder der Junggruppe war. Internet-Recherchen liefern einige Ergebnisse zu Personen mit dem Namen Benjamin Goldschmidt, jedoch keine, die zum Absender passen könnte.
Senta war vermutlich die Tochter des Schildermalers Jean Grabowski, der laut Jüdischem Adressbuch 1931 zunächst am Südwestkorso 1 wohnte. Die Familie Jean Grabowski findet sich 1934 im Berliner Adressbuch tatsächlich in der Katharinenstraße 27 in Halensee. Der letzte Eintrag in den Berliner Adressbüchern findet sich 1938, mittlerweile ist die Familie in die benachbarte Joachim-Friedrich-Straße 17 gezogen.

Auch im Gedenkbuch des Bundesarchivs findet sich kein Eintrag auf Jean oder Senta Grabowski. Möglicherweise ist die Familie Grabowski im Jahr 1938 aus Deutschland emigriert oder sie wurde im Rahmen der sogenannten Polenaktion Ende Oktober 1938 nach Polen abgeschoben (viele der im Gedenkbuch gelisteten Opfer mit Namen Grabowski hatten polnische Wurzeln). Im Arolsen-Archiv finden sich Unterlagen eines 1892 in Lublin geborenen und nach Kriegsende in Brüssel lebenden Jean Grabowski, jedoch ohne Hinweis auf eine mögliche Berliner Vergangenheit. Ebenfalls im Arolsen-Archiv findet sich ein Hinweis auf eine Senta Ben Jehuda, Grabowski, die bereits 1907 geboren wurde; die mit ihr verknüpften Dokumente aus den Jahren 1947-1951 werden aus Datenschutzgründen nicht angezeigt. Würde es sich bei Senta Ben Jehuda tatsächlich um unsere Senta handeln, wäre auch sie wohl eher Ausbilderin oder Lehrerin in der Junggruppe gewesen. Aber hätte sie als 27-jährige noch bei den Eltern gewohnt? Wäre Senta jedoch die Frau von Jean gewesen, hätte Benjamin Goldschmidt sie nicht als Fräulein angeschrieben. Vielleicht blieb Senta also bis 1938 bei ihren Eltern in Berlin, vielleicht war sie bis zu diesem Zeitpunkt aber bereits schon nach Palästina emigriert; Benjamin Goldschmidt drückt schließlich seine Hoffnung aus, dass es mit Sentas Zertifikat – sehr wahrscheinlich ist damit die Einreisegenehmigung nach Palästina gemeint – nun endlich „glatt gehe“.
Benjamin Goldschmidt nennt auf der Karte aber noch zwei weitere Namen: Cilly aus Haifa, die er nicht besuchen konnte, und Kurt Ascher, den Benjamin über seine neue Anschrift zu informieren bittet. Doch auch hier komme ich nicht weiter. Tatsächlich lassen sich mehrere nach Haifa emigrierte Frauen namens Cilly finden, aber bei keiner konnte ich eine plausible Beziehung zu Benjamin Goldschmidt oder Senta Grabowski finden. Ähnliches bei Kurt Ascher: In den Berliner Adressbüchern findet sich zwar ein jüdischer Bankbeamter Kurt Ascher aus Köpenick, der vermutlich 1882 geboren wurde und 1942 im französischen Sammellager Drancy ums Leben kam; das passt aber nicht wirklich zu einem jüdischen Jugendbund 1934. Im Gedenkbuch des Bundesarchives wird zudem ein 1920 geborener Kurt Ascher genannt, der aber bis 1935 in Parchim lebte, das könnte vom Alter her passen, erklärt jedoch nicht einen Kontakt zu einer Berliner Gruppe.
So beende ich meine Recherche nach Benjamin Goldschmidt und Senta Grabowski zunächst an diesem Punkt. Vielleicht habe ich später einmal Zugang zu anderen Quellen, aus denen sich ergibt, was aus Benjamin geworden ist, ob Senta nach Palästina gelangte und sich die beiden jemals wiedersahen.
Persönlicher Nachsatz: Von 1997 bis 2006 wohnte ich im Vorderhaus eines prächtigen Altbaus mit der Anschrift Kurfürstendamm 132. Von meinem kleinen französischen Balkon ging der Blick in die gegenüber einmündende Katharinenstraße und auch auf den Neubau, der heute auf dem Grundstück mit der Hausnummer 27 steht.