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Internet, Expressionismus, Ostsee, alte Bücher, Geschichte, Politik, Familie. Jedoch nicht zwingend in dieser Reihenfolge.

100 Raritäten (4): „Turngedichte“ von Joachim Ringelnatz

Joachim Ringelnatz hieß eigentlich Hans Bötticher. 1883 im sächsischen Wurzen als Sohn des Schriftstellers Georg Bötticher geboren zieht es ihn früh zur See. So bereist er nach Schule und Militärdienst ab 1901 bis 1903 als Schiffsjunge die Welt und lernt das raue Matrosenleben kennen – für den jungen Bötticher eine identitätsstiftende Erfahrung, der die deutschen Literatur die Figur des naiv-gutmütigen Seemanns Kuttel Daddeldu verdankt. Auf Grund seiner Sehschwäche muss Bötticher 1903 die Seefahrt aufgeben und verdingt sich in verschiedenen kaufmännischen Berufen. Doch es zieht ihn – der sich seit früher Jugend als Schriftsteller versucht – immer stärker zur künstlerischen Bohème in Berlin und München.

Joachim Ringelnatzens Turngedichte

Von Joachim Ringelnatz signiertes Exemplar der Turngedichte.

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100 Raritäten (3): „Faserland“ von Christian Kracht

Vorgestern konnte ich endlich eine Lücke in meiner Sammlung schließen. Auf dem Trödelmarkt an der Straße des 17. Juni entdeckte ich ein sehr gut erhaltenes Exemplar der gebundenen Erstausgabe von Christian Krachts Faserland, erschienen 1995 im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Und obwohl Krachts erster Roman eines der bekanntesten deutschsprachigen Bücher der Neunziger Jahre ist und mittlerweile sogar regelmäßig im Deutschunterricht gelesen wird, findet man die frühen Ausgaben kaum im Handel.

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Kühles, klares Design, auf die äußere Wirkung bedacht – die Cover-Gestaltung der Erstausgabe von Faserland weist auf das Seelenleben der Protagonisten hin.

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Post aus dem Internierungslager St. Cyprien, Juli 1940.

Im April 2019 erwarb ich eine Postkarte aus dem südfranzösischen Camp de St. Cyprien, am 21. Juli 1940 in deutscher Sprache eng beschrieben von einem Franz Neumann („Ilot 2, Baraque i9“) und adressiert an Walther Eckstein in New York City. Frankiert mit Briefmarken der französischen Republik, die nur wenige Wochen zuvor, am 22. Juni 1940, vor der deutschen Wehrmacht kapituliert hatte.

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Der zwanzigjährige Franz Neumann berichtet ausführlich über seine Lage, nachdem er im Mai 1940 aus dem von den Deutschen besetzten Belgien deportiert worden war.

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100 Raritäten (2): „Niederungen“ von Herta Müller

2009 erhielt Herta Müller den Nobelpreis für Literatur und wurde über Nacht weltberühmt. Die Autorin wuchs im diktatorisch regierten Rumänien Ceausescus auf und gehörte dort einer oppositionellen, deutschsprachigen Autorengruppe an. Nach Jahren der Repression verließ sie 1987 ihre Heimat und zog in den Westteil Berlins.

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Vorderer Umschlag der ersten Buchpublikation Herta Müllers, in deutscher Sprache erschienen 1982 noch in Rumänien.

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100 Raritäten (1): „Verlorene Gespielen“ von Franz Hessel

Das Projekt 100 Raritäten kann nur mit einem Werk eines meiner Lieblingsautoren beginnen: Franz Hessel (1880-1941), Romancier, Lektor, Feuilletonist. Franz Hessel ist der Jules in Truffauts berühmter Romanverfilmung Jules et Jim und der Vater von Stéphane Hessel („Empört Euch“).

Verlorene Gespielen war Hessels erstes Buch, ein Band Gedichte, stark beeinflusst von Stefan George, erschienen 1905 in vermutlich 1.000 Exemplaren. Hessel lebte damals in einer legendären Schwabinger Ménage-à-trois mit der Grande Dame der Münchner Bohème, Franziska zu Reventlow, und einem später in den USA verschollenen Geliebten. Weiterlesen

Mein neues Blog-Projekt: „100 Raritäten“ in 1000 Zeichen

Mir fehlt oft die Zeit, häufiger aber noch die Disziplin, einen angefangenen Blog-Beitrag zu Ende zu bringen. Andererseits twittere ich fleißig und für meine bisweilen etwas kauzigen Themen gar nicht einmal so erfolglos. Offensichtlich erleichtert mir die Zeichenbegrenzung bei Twitter das Schreiben – eine erleichternde Beschränkung also.

Daher also nun der Gedanke, mir für ein bestimmtes Thema – „Seltene und besondere Bücher aus meiner Sammlung“ – eine selbstgewählte Grenze zu setzen: 1000 Zeichen. In diesem Rahmen muss es mir gelingen, die Besonderheit eines Buches möglichst spannend zu vermitteln – insgesamt hundert Beiträge sollen so entstehen.

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Warum Hertha BSC für mich nicht der „Hauptstadtverein“ ist

Der von mir  geschätzte Marvin Mendel twitterte kürzlich die These, dass Hertha BSC sehr viel mehr Potenzial besäße, wenn der Verein nur ein geeigneteres Stadion hätte:

Ich antwortete ihm, dass Hertha BSC meiner Meinung nach neben einem nicht mehr zeitgemäßen Stadion noch andere strukturelle Probleme hätte – nämlich eine nicht vorhandene Verankerung in der Stadt. Mir widersprach ein Twitter-Nutzer und bat um Antwort.

Da diese etwas länger ausfallen wird, erläutere ich meine Meinung hier und nicht auf Twitter. Ich schreibe übrigens bewusst „Meinung“, denn ich habe dazu nicht soziologisch geforscht, sondern schlussfolgere nur aus meinen persönlichen Eindrücken.

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Lebenszeichen (2): Elsa Goldschmidt schreibt aus Piaski

In einem früheren Beitrag habe ich bereits einiges über das Transitghetto Piaski und die Deportation der Stettiner Juden im Februar 1940 geschrieben. Nun kann ich eine weitere Postkarte aus Piaski dokumentieren, die ich kürzlich erwerben konnte.

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Gerade gelesen: „Valley of Genius“ von Adam Fisher

VoGDas Buch nennt sich im Untertitel “The Uncensored History of Silicon Valley (As Told by the Hackers, Founders, and Freaks Who Made It Boom)”. Tatsächlich ist das Buch kein durchgehender Text, sondern eine sehr umfangreiche Collage von Zitaten aus über 200 Interviews, die der Autor in den letzten Jahren mit den Machern des Silicon Valley geführt hat. Zu Wort kommen nur die Personen, die tatsächlich dabei waren: Entwickler, Techniker, Investoren, Hacker, Wissenschaftler, Unternehmer. Genau das macht das Buch für mich auch so faszinierend: es ist keine interpretierende Analyse aus dem Blickwinkel des Autors, sondern sammelt die durchaus widersprüchlichen Berichte der unmittelbar handelnden Personen – oral history at its best. Entgegen meiner ersten Befürchtung liest sich das Ganze übrigens leicht und flott und wahnsinnig spannend.

Das Buch beginnt mit dem hierzulande weitgehend unbekannten Doug Engelbart und der „Mother of all demos“ in den sechziger Jahren und endet mit dem Tod von Steve Jobs im Jahre 2011. Dazwischen habe ich auf über 400 Seiten so viel Neues über fundamentale Entwicklungen und herausragende Köpfe gelernt, obwohl ich dachte, mich im Thema schon ganz gut auszukennen. Wie bahnbrechend wichtig aber beispielsweise Xerox PARC oder General Magic und die dort arbeitenden Ingenieure waren, davon hatte ich ehrlich gesagt keine Ahnung. Überraschend war für mich auch, wie sehr das Silicon Valley bis in die Neunziger Jahre hinein „Counterculture“ war, aber auch wie stark männlich dominiert es über Jahrzehnte blieb (tatsächlich tauchen nur eine Handvoll Frauen auf). „Valley of Genius“ erzählt Geschichten und darin ist das Buch sehr stark; ich habe zudem etliche Hinweise auf weitere spannende Bücher gefunden, von denen ich etliche prompt gekauft habe. „Valley of Genius“ ist allerdings keine kritische Analyse der daraus hervorgegangen gesellschaftlichen Entwicklungen. Aber dafür gibt es andere Bücher, z.B. die von Douglas Rushkoff oder zuletzt Dan Lyons.

Für mich jedenfalls war „Valley of Genius“ das faszinierendste Technik-Buch, das ich seit langem gelesen habe, und deshalb kann ich es ausdrücklich empfehlen. Zahlreiche Kapitel zum Einlesen finden sich übrigens hier bei Google Books. Zum Buch gibt es auch eine Website.

Hinweis: Bücher kauft man übrigens am besten beim Buchhändler um die Ecke!

Berlin im November 1938: „…und dann mußte er verreisen.“

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„… und dann musste er verreisen.“ Im Berliner November 1938 hieß das nichts anderes als Verhaftung.

Vor kurzem erwarb ich eine Postkarte, die am 17. November 1938 in Berlin verfasst und nach Jerusalem versandt wurde. Das Datum und der Wohnort des Empfängers lassen aufmerken. Denn acht Tage zuvor, am 9. November 1938, verwüstete ein organisierter Nazi-Mob überall in Deutschland jüdische Geschäfte und Wohnungen und zerstörte 1.400 Synagogen. Hunderte starben bei den Pogromen und über 30.000 Juden wurden in den Tagen danach verhaftet. Die Postkarte ist ein Zeugnis dieser Ereignisse, wenn man nur ein wenig zwischen den Zeilen liest. Weiterlesen