Wer nach Briefen jüdischer Flüchtlinge aus französischen Internierungslagern aus der Zeit zwischen 1939 und 1943 forscht, trifft früher oder später auf in Deutsch verfasste Korrespondenz an Albert Stiefel, 12 rue roannelle, St. Etienne. In meiner Sammlung befinden sich mittlerweile neun Umschläge und Karten an Albert Stiefel bzw. an dessen Frau Rena unter gleicher Adresse; Abbildungen weiterer Postkarten an Albert Stiefel zeigt zudem die Webseite Holocaust History Archive.

Beim Betrachten der Poststücke fällt auf, dass manche handschriftliche Listen von Gütern enthalten, die Albert Stiefel offensichtlich den Absendern in die Lager schickte. Nicht immer schien es sich bei den Empfängern um Familienangehörige zu handeln. Betrieb Albert Stiefel einen Unterstützungsservice für jüdische Internierte? Was lässt sich über ihn herausfinden?
Wer war Albert Stiefel?
Das Gedenkbuch des Bundesarchives gibt erste knappe Auskunft. Geboren am 23. Februar 1886 im badischen Menzingen wohnt Albert Stiefel später im nahegelegenen Bruchsal, von wo aus er nach Frankreich emigriert. Am 31. Juli 1943 wird er vom Sammellager Drancy bei Paris nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Der englische Philatelist David Hogarth machte sich vor über zwanzig Jahren auf die Suche nach weiteren Informationen über Albert Stiefel, forschte in regionalen Archiven und fasste seine Erkenntnisse in einem 2005 veröffentlichten Aufsatz zusammen, ohne alle Fragen beantworten zu können.
Nachfolgend fasse ich Hogarths Erkenntnisse zusammen. Demgemäß war Albert Stiefel verheiratet mit Rena (geb. 1889), die beiden hatten zwei Söhne, Kurt (geb. 1921) und Max (geb. 1924); beide Söhne kamen in Karlsruhe zur Welt, vermutlich also der Wohnort der Familie zu dieser Zeit. Später lebte die Familie wohl in Saarbrücken, französische Akten weisen Albert Stiefel als Refugié saarois aus. Bereits 1933 emigrierte die jüdische Familie Stiefel nach Frankreich – zunächst nach Paris, im Mai 1936 schließlich nach St. Etienne; dort war Albert Stiefel als Kaufmann registriert. In welcher Beziehung Albert Stiefel zu den Absendern und Empfängern der Briefe und Karten stand, konnte Hogarth nicht herausfinden. Im Mai 1943 jedoch werden Albert und Rena Stiefel in Grenoble verhaftet, in das nördlich von Paris gelegene Sammellager Drancy gebracht, von dort am 31. Juli 1943 mit dem Transport Nr. 58 nach Auschwitz deportiert. Von den 1.000 Insassen dieses Transportes überleben 28, Rena und Albert Stiefel sind nicht darunter. Die Spur des älteren Sohnes Kurt verliert sich 1942, jedoch überlebt der jüngere Sohn Max, wie ein Antrag auf Wiedergutmachung in Saarbrücken aus dem Jahr 1961 belegt.
Im folgenden dokumentiere ich die neun Postsendungen, die sich aktuell in meiner Sammlung befinden. Weitere Belege werde ich ergänzen, sofern ich welche finden sollte. Da zwischen dem ersten Beleg vom Dezember 1940 und dem letzten von Mai 1943 gut zweieinhalb Jahre liegen, könnte es gut sein, dass die gesamte Korrespondenz mehrere hundert Schriftstücke umfasste.
Die Korrespondenz Albert Stiefel
1. Postkarte von Liese Kahn, Camp de Gurs, 12. Dezember 1940
Französische Militärpostkarte von Liese Kahn, Ilôt K, Baraque 21, Camp de Gurs an Beate Kahn b. Albert Stiefel, Poststempel Camp de Gurs vom 12. Dezember 1940. – Diese Postkarte zeigt David Hogarth in seinem Aufsatz als Nr. 1.


Der Text der Karte lautet wie folgt:
Camp de Gurs 12.12.40.
Liebe Beate! Meine lieben Alle!
Ich hoffe nicht dass Tante Selma & Onkel Wilh. mir wegen Pakete schwer böse sind. Was ich wissen wollte weiss ich jetzt. Das Andere erzähle ich Euch später. Wir verhungern hier ja nicht. Das Essen ist etwas besser geworden. Wir zahlen 3 frs pro Woche Zuschuss. Uns fehlt nur für Kranke Zwieback Gries usweiter. Denn es gibt viel m. Durchfall. Wir sind G. s. Dank gesund & helfen gerne wo zu helfen ist. Manche Tage hat man mehr Hunger & dann geht es wieder besser. Wenn nur der ewige Regen aufhören wollte wir versinken bald im Matsch wenn wir nur auf der Clou gehen. Gummischuhe habe [ich] mir gekauft, aber man könnte Gummistiefel gebrauchen. Tante Jenny hat von Bertel einen schönen Brief bekommen v. 21. Nov. Wir haben von Edith und Lore immer noch nichts. Solange wir noch Geld haben, möchte ich keines senden lassen, denn wir müssen für Fahrkarten sparen um hier rauszukommen. Den Schal habe [ich] sofort abgegeben an R. Ullmann. Teppiche haben [wir] genug. Tante Amalie bekommt Pakete mit Schlafsack & haben mir Ihren Teppich [gegeben].
Herzliche Grüße und Küsse Liese.
Die Absenderin Liese Kahn gehörte zu den 6.504 badischen und pfälzischen Juden und Jüdinnen, die am 22. Oktober 1940 im Rahmen der sogenannten Wagner-Bürckel-Aktion nach Gurs deportiert wurden. Am 2. September 1942 wurde sie von Drancy aus nach Auschwitz gebracht. – Die Empfängerin Beate Kahn (geboren am 15. August 1923, ursprünglich wohnhaft in Pforzheim) wurde bereits am 12. August 1942, wenige Tage vor ihrem 19. Geburtstag, von Drancy aus nach Auschwitz gebracht, wo sie vermutlich kurz darauf ermordet wurde.
Das in den Pyrenäen gelegene Camp de Gurs war das größte französische Internierungslager zwischen 1939 und 1945, mehr als 60.000 Gefangene hielten sich in diesen Jahren im Lager auf, manche nur wenige Tage, andere mehrere Jahre. Die Wikipedia gibt einen guten Überblick über das Lager mit weiterführenden Links.
2. Brief von Nanette Scheuffele, Camp de Gurs, 3. Februar 1941
Briefumschlag von Nanette Scheuffele, Ilôt R, Baraque 9, Camp de Gurs an Albert Stiefel; Poststempel Camp de Gurs vom 3. Februar 1941, den Zensurstempel Gurs No. 5.
Rückseitig findet sich ein Ankunftsstempel aus St. Etienne vom 17. Februar 1941, die Laufzeit aus dem Camp de Gurs nach St. Etienne betrug also 14 Tage. Albert Stiefel fügte am 25. Februar 1941 einen handschriftlichen Bearbeitungsvermerk „(Haken) 25/II/41“ hinzu.
Da es keine Klebestreifen zum Verschließen des Briefes nach der Zensur gibt, musste Nanette Scheuffele den Brief offensichlich unverschlossen aufgeben.


Bei der Absenderin handelt es sich vermutlich um Nanette Scheuffele (geb. Metzger), geboren am 8. November 1864 in Gondelsheim bei Bruchsal, verstorben am 2. Februar 1955. Nanette war zum Zeitpunkt ihrer Internierung 76 Jahre alt. Sie überlebte das Exil, wie ein Antrag auf Wiedergutmachung im Landesarchiv Baden-Württemberg belegt.
3. Brief ohne Absender, Camp de Gurs, 5. Februar 1941
Der Brief trägt den Poststempel Camp de Gurs vom 5. Februar 1941, jedoch keinen Zensurstempel. Wiederum findet sich ein handschriftlicher Bearbeitungsvermerk „(Haken) 28/II/41“ von Albert Stiefel vom 28. Februar 1941; rückseitig ein Ankunftsstempel aus St. Etienne vom 20. Februar 1941, die Laufzeit des Briefes betrug also in diesem Fall 15 Tage.


Der Brief wurde ohne Absenderangabe aufgegeben, die Schrift ähnelt der der nachfolgend dargestellten Postkarte 4.
4. Postkarte von Fr. Schwarz, Camp de Gurs, 7. Februar 1941
Französische Postkarte von Fr. Schwarz, Ilôt K, Baraque 21, Camp de Gurs an Beate Kahn b. Albert Stiefel; Poststempel Camp de Gurs vom 7. Februar 1941 sowie den Zensurstempel Gurs No. 4 ; handschriftlicher Bearbeitungsvermerk „(Haken) 25/II/41“ von Albert Stiefel vom 25. Februar 1941.


Der Text der Karte ist sehr schwer lesbar, ich lese zumindest einzelne Worte wie folgt:
Gurs, 4.2.41.
Meine Lieben!
Ihr habt gewiß [unleserlich] von meinem derzeitigen Aufenthalt erfahren. Leider haben die Schmerzen noch nicht nachgelassen.
auch die Kälte nachgelassen hat. Mit dem Rohrbauch [?] ging es noch gut
[unleserlich]
Für heute noch innige Grüße u Küsse
Die Person Fr. Schwarz konnte ich bislang nicht eindeutig zuordnen.
5. Brief von Henriette Kuhn, Camp de Rivesaltes, 5. September 1941
Briefumschlag mit Poststempel Camp de Rivesaltes vom 5. September 1941, Zensurstempel Direction du Camp de Rivesaltes sowie den handschriftlichen Bearbeitungsvermerk „(Haken) 9/9/41“ von Albert Stiefel vom 9. September 1941. Henriette Kuhn war im September 1941 im Ilôt B, Baracke 29 untergebracht.


Henriette Kuhn wurde am 19. November 1865 in Rastatt/Baden geboren, lebte in Rastatt und unmittelbar vor ihrer Deportation in Mannheim. Am 22. Oktober 1940 wurde Henriette Kuhn nach Gurs deportiert, später dann in das Internierungslager Rivesaltes. Dort starb sie im Alter von 76 Jahren am 24. Dezember 1941. – In Rastatt erinnert heute ein Stolperstein an Henriette Kuhn, hier finden sich weitere biographische Informationen.
Auch das am Mittelmeer nahe der spanischen Grenze gelegene Lager Rivesaltes ist in der Wikipedia beschrieben.
6. Postkarte von Olga Rosenthal, Camp de Rivesaltes, 15. September 1941
Postkarte von Olga Rosenthal und Dr. Karl Rosenthal, Ilôt B, Infirmerie, Camp de Rivesaltes an Albert Stiefel, gestempelt am 17. September 1941, zusätzlich der ovale Stempel der Lagerzensur. – ex Coll. David Hogarth (Nr. 7)


Der Text der Karte lautet wie folgt
Meine Lieben, heute mal nur eine kurze Karte, um die Ankunft des Paketes für Mutter zu bestätigen. Vielen herzlichen Dank auch in ihrem Namen für die vielen feinen Sachen.Laut Inhaltsangabe auf dem Deckel kam diesmal alles gut an: Brot, Haferfl.[ocken], Gerstefl.[ocken], Zucker, Sedobrol, Fett, Gries & Milch. Unser Brief vom 12. wird wohl in Euren Händen sein. Mutter geht es soweit ordentlich. Trotz guter Zusatznahrung & viel Ruhe hat sie noch nichts zugenommen. Mit Verpackung 41 kg. Aber ich bin froh, wenn sie nicht noch mehr abnimmt. Claus wird jetzt wohl bald die Ernte hinter sich haben und wieder nach P. zurück müssen, was ihm in puncto Essen auch wenig angenehm ist. Zum Jahreswechsel nochmals alles Gute. Hoffentlich habt Ihr für die Feiertage beide Jungens um Euch, worum ich Euch sehr beneide. Viele innige Grüße Euch allen 4 von Eurer Olga
Herzliche Grüße und nochmals Dank und Glückwünsche von Karl.
Das weitere Schicksal von Dr. Karl und Olga Rosenthal aus Kehl ist hier umfassend dokumentiert. Die im Schreiben erwähnte Mutter von Olga verstarb noch 1941 im Lager Rivesaltes, Dr. Karl Rosenthal verstarb am 26. März 1944 im KZ Gräditz, Olga im September 1942 in Auschwitz. Der ebenfalls erwähnte Sohn Claus überlebte mehrere deutsche Konzentrationslager und wanderte später nach Südamerika aus.
7. Brief von Liesel Raskin, Camp de Gurs, April 1942
Umschlag von Liesel Raskin, Ilôt L3, Camp de Gurs an Albert Stiefel, gestempelt am 20. April 1942, zusätzlich der ovale Stempel No. 5 der Lagerzensur. – Rückseitig vermutlich von der Hand Albert Stiefels die im Brief genannten Wünsche: „Mullreste, Holzsandalen 37, Watte“. Vorderseitig Bearbeitungsvermerk vom 15. Juni 1942, vermutlich auch von Albert Stiefel.


Eine Liesel Raskin konnte ich bislang nicht nachweisen.
8. Postkarte von Rosa Mayer née Vollmer, Camp de Noe, 31. Januar 1943
Postkarte von Rosa Mayer, geb. Vollmer, Pavillon 38, Camp de Noe an Albert Stiefel, gestempelt am 1. Februar 1943, zusätzlich ein rechteckiger Stempel der Lagerzensur CENTRE DE SEJOUR SURVEILLÉ de NOE.


Der Text der Karte lautet
Rosa Mayer, née Vollmar, Camp de Noe, le 31. Janvier 1943. Pav. 38
Lb. Rena! Schon sehr lange habe ich nichts mehr von Euch gehört, deshalb wieder einmal ein Lebenszeichen von mir. Hoffe Euch bei bester Gesundheit, desgl. bei mir auch der Fall, nur mit einigen Alterserscheinungen. – Lb. Willy mit Frau ist schon seit Mitte Febr. von Rivesaltes weg gereist.Das Kind ist seit 1 Jahr in einem Kinderheim in Limoges & ist sehr gut aufgehoben.Meine Schwiegertochter erreichte noch vorher [unleserlich] zu besuchen & so sah ich dieselbe 2 1/2 nicht mehr, da dieselbe nur das [unleserlich] war, mich zu besuchen, nicht mehr & war nicht mehr gestattet. Und so bin ich hier in Noe mutterseelenallein.So G[ott] w[ill]kommt recht baldigst einen gerechten baldigen Frieden unter allen Völkern. Wenn Sie vielleicht für mich etwas erübrigen sollten wäre [ich] Ihnen im voraus herzl. dankbar wenn mir etwas Brot + 2-3 gekochte Kartoffeln, jedoch sind der Monate nur 2 [unleserlich] gestattet + zwar je 5 Kilo u.wäre Ihnen vielleicht möglich vorher verständigen zu wollen. Anfang Febr. habe [ich] von einer Cousine in Perigneux [unleserlich] in Aussicht.Vielleicht deren Tochter das 2te. [unleserlich] habe auch schon einige Mal erhalten. Obenstehend genaue Adresse!
Entschuldige bitte mein Anliegen, indem Dich herzlich grüßt Rosa Mayer (Vollmer)
Wie Akten aus einem Wiedergutmachungsverfahren belegen, überlebte die 1872 in Hagenbach in Rheinland-Pfalz geborene Rosa Mayer die Internierung, sie verstarb jedoch bereits am 20. Juli 1946.
Das Camp de Noe ist ebenfalls in der Wikipedia beschrieben; es war deutlich kleiner als Gurs, die Gesamtzahl der Häftlinge zwischen 1940 und 1944 wird auf 3.000 geschätzt, viele davon alte und kranke Menschen.
9. Brief von Emma Kahn, Camp de Gurs, 18. Mai 1943
Umschlag von Emma Kahn, Ilôt I(?), Baracke 3, Camp de Gurs an Albert Stiefel, gestempelt am 18. Mai 1943, rückseitig der ovale Stempel No. 10 der Lagerzensur. – Bemerkenswert ist bei diesem Brief, dass Emma Kahn einen Geschäftsumschlag eines an der Empfängeradresse ansässigen Fachgeschäftes (ggf. ein Geschäft für Arbeitsbekleidung) verwendet, sie sich vorher also möglichweise in Saint-Étienne aufgehalten hat.


Dieser Brief trägt den handschriftlichen Bearbeitungsvermerk von Albert Stiefel vom 27. Mai 1943, dem Monat also, in dem das Ehepaar Stiefel laut Hogarth in Grenoble verhaftet wurde. Somit dürfte dies einer der letzten Briefe sein, auf die Albert Stiefel noch reagieren konnte. Nur kurze Zeit später muss er nach Grenoble abgreist sein.
Im Gedenkbuch des Bundesarchivs finden sich zwar mehrere Opfer mit dem Namen Emma Kahn, jedoch keine, für die eine Deportation nach Frankreich oder ein Aufenthalt in Gurs bekannt ist. Vermutlich handelt es sich bei der Verfasserin um Emma Kahn aus Freiburg, die den Krieg überlebte und 1955 in Aix-les-Bains verstarb. Ob sie mit Liesel und Beate Kahn (vgl. Postkarte 1) verwandt ist, kann nur vermutet werden.